Häusliche Gewalt und zu Tode gequälte Tiere: Der Roman "Das ganz normale Leben" von Adeline Dieudonné kostet Nerven. Und das ist gut so - meint Elke Heidenreich.
DER SPIEGEL
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Unterhaltung
Um dieses Buch zu lesen, "Das wirkliche Leben" von Adeline Dieudonné, bei dtv erschienen, braucht man Nerven und innere Kraft. Wollen Sie mal hören? Es geht um eine Familie, wie die Tochter ihren Vater beschreibt. Das ist gleich auf Seite zwei. Auf der ersten Seite erzählt sie, dass er Großwildjäger ist, und immerfort Tiere totschießt und die Köpfe ausstopfen lässt und die hängen dann zu Hause rum und die Kinder haben Angst. Auf der zweiten Seite heißt es: "Mein Vater war ein Koloss. Er hatte breite Schultern wie ein Abdecker und Hände wie ein Riese. Hände, die den Kopf eines Kükens ebenso leicht abschlagen konnten, wie den Kronkorken einer Flasche Cola. Neben der Trophäenjagd hatte mein Vater noch zwei weitere Leidenschaften im Leben, Fernsehen und Whisky trinken.
Und so geht es weiter. Hin und wieder richtete er sogar das Wort an meine Mutter. Aber eigentlich hätte man sie auch durch einen Ficus ersetzen können. Er hätte den Unterschied gar nicht bemerkt. Meine Mutter hatte Angst. Angst vor meinem Vater." Was ist das für eine Mutter? Die ist ein Nichts, eine Amöbe, ein Etwas, das durchs Haus schleicht, mit Mühe und Not kocht und sich bemüht, überhaupt nicht da zu sein. Manchmal schlägt der Vater die Mutter wegen irgendwas grün und blau. Dann halten sich die Kinder möglichst raus, damit sie nicht auch noch da reingezogen werden. Die Kinder sind eben das erzählende Mädchen und der etwas jüngere, zu Anfang des Buches sechs Jahre alte Junge, ihr Bruder Gil, den sie versucht zu beschützen, soweit es geht in dieser grässlichen, brutalen Familie, in einer hässlichen Vorstadtsiedlung.
Und dann passiert was, das hätte nun nicht auch noch sein müssen. Die Kinder kaufen sich bei einem Eismann, der mit einem Wagen ankommt und einen schönen Walzer spielt und klingelt, kaufen Sie sich ein Eis, und während er auf das Eis aus der Sahnemaschine die Sahne drauf tut, explodiert die Maschine und reißt den Mann das halbe Gesicht weg. Die Kinder werden Zeuge dieses entsetzlichen Unfalls. Und danach. Von dem Schock erholt sich Gil überhaupt nicht mehr. Er ist eh nicht stabil. Nun schweigt er, wächst heran und er zieht sich von seiner Schwester zurück. In der Siedlung verschwinden immer mehr Tiere, Hunde, Katzen, auch die kleine Zwergziege der Mutter. Und allmählich kommt man dahinter. Warum die verschwinden? Er fängt diese Tier und foltert sie und quält sie und tötet sie am Ende. Aber es ist ein gequältes Kind, das hier so etwas tut. Man kann es nur kaum lesen und kaum aushalten. Und die Schwester ist völlig verzweifelt, und sie will das Lachen des Bruders zurückkriegen. Sie ist ein hochbegabtes Mädchen, und sie findet durchaus einige Menschen, die sie fördern, die ihr helfen, die sie unterstützen. Sie überlegt immer: Man muss doch die Zeit zurückdrehen können, sodass er wieder wird, wie er vorher war, dass er wieder lachen kann. Ich will jetzt nicht alles erzählen. Es spitzt sich zu bis zu einem sehr blutigen und grässlichen Ende. Es ist so grässlich, dass man als Leser geradezu aufatmet, weil es endlich zu einem Höhepunkt gekommen ist. Und warum soll man nun so ein schreckliches Buch lesen? Das kann ich Ihnen sagen, weil es genau das ist, wie es heißt: "Das wirkliche Leben." Es ist gut geschrieben. Es spart nicht aus, wie es hinter manchen Familien, hinter manchen Wänden, in manchen Häusern zugeht. Es ist sehr bewegend, mitunter sogar ein bisschen komisch. Spannend wie Stephen King. Und weil man diese Erzählerin mag, man gewinnt sie liebe im Laufe der Zeit. Und auf alle Fälle, ist ein solches Buch besser als die verlogenen Traumschiffidyllen, die man uns vorsetzt. Die braucht man manchmal auch, wie Zuckerplätzchen.
Aber das ist das wirkliche Leben, und man muss sich am Ende von dieser Lektüre wirklich erholen. Aber gelohnt hat es sich allemal. Ich finde, der Roman ist eine Wucht.
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